Samarkand oder Ungewöhnliche Erkundung einer Stadt

Ein Reprint von Landolf Scherzer

landolf-scherzer.jpgMitte der 1970er Jahre reiste ein DDR-Schriftsteller in die 5 südlichen Sowjetrepubliken, die sogenannten -stans , und erschrieb sie einem DDR Publikum. Es entstand das Buch “Nahaufnahmen”. Seine schriftstellerische Bekanntheit sollte sich eigentlich erst später mit einem Werk ergeben, das in der DDR wie eine kleine publizistische Überraschung wirkte: “Der Erste”. Der Schriftstellerverband der DDR hatte die Aufgabe gestellt, das Leben und Streben der Arbeiter- und Bauernpartei noch näher ans Volk zu bringen. Diesen Auftrag ernst nehmend stellte Landolf Scherzer den Antrag, den Bezirksparteisekretär von Suhl für 14 Tage auf Schritt und Tritt verfolgen zu dürfen. Das Ansinnen erschien märchenhaft, denn ein Bezirksparteisekretär war damals das, was heute ein Ministerpräsident eines kleinen Bundeslandes ist – kein unwichtiger Mann im Staate. Kurzum, Scherzer erhielt die Chance und nutzte sie zu einer erstaunlich lebensnahen Reportage von den Aufgaben und Problemen und von den Leistungen und dem Unvermögen der SED Funktionäre.

Vor ein paar Jahren meldete sich Landolf Scherzer zurück auf der literarischen Bühne und schrieb zwei bemerkenswerte Bücher. In “Die Fremden” spürt er den Erfahrungen von Gastarbeitern in der DDR und derer nach, die mit ihnen und für die sie arbeiten und schildert ihre Schicksale in Wende- und Nachwendezeit. In “Der Grenzgänger” läuft Scherzer entlang der Deutsch-Deutschen Grenze zwischen Thüringen, Hessen und Bayern und berichtet von seinen Erlebnissen auf beiden Seiten. Landolf Scherzer fühlt sich stets in die Menschen ein, denen er begegnet und zeigt denen, die ihm dabei offensichtlich auf den Keks gehen auf recht direkte Weise seine Missfallen. Continue Reading →

Was bleibt ist die Erinnerung… zum Tod von Tschingis Aitmatow

[inspic=353,left,,400]Ein Nachruf von Thomas Loy und Olim devona.

Nach dem Stalinismus der 1930er bis 1950er Jahre war das Verhältnis zwischen dem sowjetischen Staat und seinen Bürgern geklärt. Beide Seiten wussten relativ genau, woran sie waren. Die verängstigten Massen bezeugten dem herrschenden Apparat ihre Loyalität und Solidarität, dafür verzichtete dieser auf die willkürlichen und blindwütigen Zwangsmaßnahmen, die das Leben in der Sowjetunion seit den 1930er Jahren bestimmten. Diese rituelle Zustimmung blieb jedoch über die Jahre hinweg rein deklarativ und verpflichtete niemanden dem Staat auch tatsächlich zu dienen. Den Sowjetbürgern ermöglichte diese Strategie der Anpassung das Überleben. Es kehrte Ruhe ein in der Sowjetunion. Dazu trug auch ein anderes Ereignis bei. Der siegreiche Kampf gegen den Faschismus im zweiten Weltkrieg wurde für die Sowjetunion zur ersten alle Sowjetrepubliken integrierenden Kollektiverfahrung. Die damit einhergehende Erinnerungsarbeit ermöglichte es der sowjetischen Führung, vom selbstzerstörerischen Terror der 1930er Jahre abzulenken. Der durchstandene Krieg inszeniert als vereinendes Erlebnis, das alle negativen Erinnerungen überlagern sollte. Die Zeit davor wurde ausgeblendet und dann, nach Stalins Tod, schlicht als Fehlentwicklung abgetan. Was folgte war Stagnation. Continue Reading →

Im Land der Amazonen IV

Dies ist die letzte der vier Folgen, die alles in allem den um 1890 geschriebenen fiktiven Bericht eines Taschkenter Geistlichen Abbas Efendi ergeben, der im wüsten Afrika in das Land der Amazonen geriet. Die Folge I beschäftigte sich mit der Einführung einer fiktiven getrennt geschlechtlichen Welt, in der die Frauen das Sagen haben und die Männer ihnen dienen. Schnell erkennt der Leser die Zustandsbeschreibung französischer und zentralasiatischer Verhältnisse am Ende des 19. Jahrhundert. Erstaunen breitete sich aus, wurden wir gewahr, dass sich die Emanzipation der Geschlechter in Europa wenig von der des Orients unterschied. Folge II lies uns in eine Kulturdebatte eintauchen, in der schnell klar gemacht wurde, dass wie auch immer die Diskussion auf der Seite der Männer oder der Frauen verlief echte Gleichheit von keinem wirklich gewünscht wurde, ein Zustand der auch im Europa des 21. Jahrhunderts reine Zukunftsmusik bleibt. Continue Reading →

Im Land der Amazonen III

(Folge drei der Übersetzung von Ingeborg Baldauf mit keiner Einleitung von Olim devona)

Die zweite Folge hat uns in die europäischen und islamischen kulturellen Vorstellungen von der Rolle der Frau wie in ein Spiegelkabinett des 19. Jahrhunderts geführt, und dabei erstaunlicherweise die Frage, die auch die heutige deutsche Gesellschaft plagt, unbeantwortet gelassen: Ist wirkliche Gleichberechtigung möglich, ohne dass ein Partner in der Beziehung sich unterordnet? Diese Gedanken plagten also die Aufklärer vor etwa 120 Jahren genauso wie uns heute.

Da aber Gaspirali Gasprinskij nicht nur ein Intellektueller, sondern auf seine Art auch Ideenhändler war, wußte er, dass sich gute Geschichten nur verkaufen lassen, wenn dazu eine gehörige Portion “Sex, Crime ‘n Thrill” kommt. Und was sollte man dazu noch sagen außer …. Continue Reading →

Im Land der Amazonen II

(Folge zwei der Übersetzung von Ingeborg Baldauf mit einer Einleitung von Olim devona)

In einer ersten Folge der Distopie des Krimtatarischen Intellektuellen Gaspirali Gasprinskj wurden wir eingeführt in die Rahmenhandlung der gesamten Geschichte, die Gefangennahme einer ausschließlich männlichen Expedition in die Hände von weiblichen Kriegern, die diese in ihr Land, in das Land der Amazonen verbringen. Die Augen, durch die wir nun dieses Land betrachten sind die Augen des Taschkenter Intellektuellen Mulla Efendi, der in Briefform über seine Abenteuer in Afrika berichtet. Dieser Bericht offenbart uns eine ungewöhnliche Vernetzung der Welt. Continue Reading →

Muhib (1911-2007)

(Zum ersten Todestag eines großen bucharisch-jüdischen Schriftstellers von Thomas Loy)

1927 betrat ein 16 jähriger Junge die Redaktion der seit kurzem in Samarkand erscheinenden Bucharisch Jüdischen Wochenzeitschrift Rushnoi (Licht / Erleuchtung). In der Hand hielt er seine ersten selbstverfassten Gedichte. Der verantwortliche Redakteur hieß Mordekhai ben Hijo Bachaev willkommen und versprach, die Ghazelen in einer der nächsten Ausgaben der Zeitung abzudrucken. Ein Jahr später war der junge Bachaev festes Redaktionsmitglied und veröffentlichte bereits regelmäßig unter dem, aus den Anfangsbuchstaben seines Namens gebildeten Pseudonym Muhib (Der Freund). Es war der Beginn einer viel versprechenden Karriere als sowjetischer Intellektueller. Continue Reading →

Ismail Bey Gasprinskij: Im Land der Amazonen I

Anfang der 1890er Jahre tourt eine außergewöhnliche Truppe durch Deutschland, die Amazonen von Dahomey. Am 3. Dezember 1892 kommentiert Die ILLUSTRIERTE ZEITUNG:

“Die Truppe der Amazonen von Dahomey, die früher in Leipzig, Berlin und anderen Orten gastierte, gibt gegenwärtig in München vielbesuchte Vorstellungen.”

In ganz Europa ließ man sich um die Jahrhundertwende gerne durch sogenannte Völkerschauen, “Gezähmte Wilde” und anderen Formen exotistischer Veranstaltungen und Einrichtungen unterhalten und in wohliges Schaudern versetzen. Die Tour der afrikanischen Amazonen jedoch erfreute sich aufgrund der Vorstellung, die man sich in Europa von diesem mystischen Frauenvolk machte, besonderen Interesses. Continue Reading →

Der fliegende Berg

Rezension zu Christoph Ransmayr, Der Fliegende Berg. Fischer 2006.

(Beitrag von Franz Xaver Erhard)

Tibet, das Schneeland, Projektionsfläche für endlose Phantasien. Mit einer Reisegruppe bin ich unterwegs im nahezu unbekannten Kham. Irgendwo zwischen Pema und Jekundo, auf der alten Teestraße, die Südchina mit dem tibetischen Hochland verbindet, krame ich aus meinem Seesack das Buch, das meine Reiselektüre sein sollte und das ich noch am Tag meiner Abreise in einer Buchhandlung in Berlin eilig besorgt hatte: Der Fliegende Berg. Christoph Ransmayrs neuer Roman. Continue Reading →