Zugvögel über Kabul

Ein Beitrag von Just Boedeker und olim devona

Als vor fünfzig Jahren ein Schwarm Zugvögel von Europa über Afghanistan hinweg nach Indien ziehen wollte, wurden einige von ihnen schon vorher müde und ließen sich in Afghanistan nieder. Bevorzugter Rastplatz von ihnen war Kabul. Diese Zugvögel waren alle Mitglieder einer glücklichen Generation, die im Schoße des Wirtschaftswunders aufgewachsen waren, deren Eltern noch die Wirren und Unwägbarkeiten des Weltkrieges erlitten hatten und ihren Kindern aber nur das Beste mitgeben wollten: eine gute Erziehung, ordentliche Bildung, den Glauben an Fortschritt und ein besseres Leben. Es waren diese kleinen Aufsteiger, die den Glauben der Eltern als Bedrängung empfanden, sich in Studentengruppen gegen die verkrusteten Hierarchien verbünden wollten und schließlich als die 68er Generation zweifelhafte Berühmtheit erlangen sollten.

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Für viele dieser vielleicht einzigen “glücklichen” deutschen Generation des 20. Jahrhunderts, deren Leben so ganz ohne biographische Brüche verlief (keine Weltwirtschaftskrise, keine Kriegserfahrungen, keine Honnecker Stagnation), war jedoch Behütetsein, Aufstiegseros und Wirtschaftswunder ein Graus. Sie wurden Aussteiger, die genug Geld hatten, die Welt zu bereisen. Sie hatten den Willen dazu, dieses Geld länger zusammenzuhalten, als es ihre Klassenkameraden und Studienkollegen taten, die mit dem Auto nach Norditalien reisten, um dort den Espresso auf den Piazzas zu schlürfen und sich Sommerfrischegeschichten von Tante Marta anzuhören. Das waren also die Zugvögel, die in den späten 1960er und 70er Jahren aufbrachen, um den Raum zwischen der Türkei und Indien oder sogar Indonesien zu bereisen. Viele nutzten dafür eigens gecharterte Space Buses mit denen unter den Einfluss verschiedener Substanzen die oft ebenfalls berauschenden Landschaften der Region durchquert wurden. Die Ziele hießen Kalkutta, Bombay oder Hyderabad und eine der berühmten Routen dieser Zeit waren die drei Ks: Kabul, Kalkutta und Kuta.
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Afghanistan kurz vor der Wahl

Ein Bericht von olim devona

Seit Wochen sind sie unterwegs, Autos mit Lautsprechern und Wahlkampfplakaten auf Dächern und an Fensterscheiben. Sie spielen entweder traditionelle Musik, spulen kurze Reden von Parlamentskandidaten ab oder lassen Parolen durch die Straßen schallen. Diese sind mit Wahlplakaten gepflastert, jeder Quadratmeter scheint besetzt.

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Kommenden Sonnabend werden in Afghanistan Parlamentswahlen abgehalten. Die Medien in Afghanistan berichten ständig darüber. Im Ausland scheint sich die Meinung etabliert zu haben, dass die Wahlen nur von pro westlichen Politikern ausgerichtet werden und eine große Gruppe bewaffneter Gruppierungen sie zu verhindern wünscht. Die Realität in Afghanistan ist jedoch weit davon entfernt, solch einem einfachen schwarz-weiss Muster zu folgen. Auch die Taliban schicken ihre Kandidaten ins Rennen.
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Keine Angst vor der Kabuler Universität

Ein Beitrag von Just Boedeker und olim devona

Ende August waren wir, zwei befreundete Ethnologen, an der Universität Kabul, um dort im germanistischen Seminar im Institut für Literaturwissenschaften mit den Studenten Konversationsübungen durchzuführen. Die Institute sind in einer wunderschönen Grünanlage verteilt, die in den 1960er Jahren mit amerikanischer Unterstützung angelegt wurde.

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Auf dem Campus bewegen sich die Studenten und Studentinnen in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen; die Frauen bis auf einen Augenschlitz verschleiert oder vollkommen unverschleiert und körperbetont. Bei den Männern reicht das Spektrum von weiten “afghanischen” Hemden und Hosen bis zu knallbunter, westlich inspirierter Kleidung. In der Nähe des Instituts für Kunst, einem schönen von der pakistanischen Regierung gestifteten Bau ist die Dichte extravaganter Studenten wohl am größten. Weniger extravagant geht es am Institut für Islamisches Recht (shari’at) zu.

Die große Variationsbreite dieser Auftritte zeigt, wie sehr die Universität als ein sicherer und geschützter Raum wahrgenommen und von den Studenten zum Ausleben ihrer individuellen Vorlieben genutzt wird. Dass die Universität von Kabul als einer der sichersten Orte der Stadt gilt, hängt dabei nicht nur vom Sicherheitspersonal an den Eingängen der Universität ab. Die Soldaten an den drei Eingängen kontrollieren je nach Tagesform und -zeit sehr unterschiedlich: Manchmal wird keiner ohne Studentenausweis und Durchsuchung der Taschen (wofür sie sich allerdings entschuldigten) eingelassen; manchmal wird der Fluss der Studenten unkontrolliert eingelassen. Continue Reading →

Before Taliban

Eine Buchvorstellung von Th. Loy

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Vor den Taliban? So lautet der Titel eines der wohl lesenswertesten Bücher, das in den letzten Jahren zu Afghanistan herausgegeben wurde. Und es wurde viel herausgegeben in den Jahren seit 2001. (Alleine im Katalog der Berliner Staatsbibliothek sind unter dem Schlagwort “Afghanistan” 387 Bücher gelistet, die zwischen 2001 und 2010 erschienen sind; davon 217 auf Englisch und 81 auf Deutsch). Bezeichnenderweise wurde “Before Taliban” schon geschrieben, bevor die Taliban durch den Kriegszug der Amerikaner und ihrer Verbündeten von der Macht in Kabul verdrängt wurden. Das Buch wurde also geschrieben, bevor Afghanistan ein Topthema wurde und von Heerscharen selbsternannter Afghanistan-Experten in allen Medien, Genres und Gattungen niedergeschrieben wurde. Continue Reading →

Taliban Gerichte favorisiert

Wie Qayum Babak aus dem Norden von Afghanistan berichtet, sind bei der Bevölkerung die ad hoc Gerichte der Taliban als effizientere Rechtsprechung als die staatlichen Institutionen angesehen. Nur einer der verhandelten Fälle: Ein Mann kauft bei einem anderen ein Motorrad, bezahlt aber nicht die ganze Summe.

Der Mann geht zum Richter. Dieser verlangt aber erst einmal Geld, um den Fall überhaupt aufzunehmen. Die Summe des Geldes beträgt nun aber schon die Hälfte der noch ausstehenden Schuld. Da der Geschädigte dazu nicht bereit ist, beschließt er, sich an die Taliban zu wenden. Diese kommen eines Abends zur Moschee und hören sich den Fall an. Sie holen den Beschuldigten herbei und erkundigen sich über den Fall bei ihm. Am nächsten Morgen kommt der Schuldner mit der noch ausstehenden Summe. Der Gläubiger war froh, dass die Taliban den Fall gelöst hatten. Sie nahmen kein Geld dafür und besiegelten den Disput auf der Basis der Sharia.

Mohaiuddin ein Dorfvorsitzender aus der Provinz Faryab führt dazu aus:

“Die Taliban lösen Fälle von großer Bedeutung für die ländliche Bevölkerung, ohne Bakschisch dafür zu nehmen, oder andere Probleme dafür zu machen. Sie können sogar Dispute zur Ermordeung innerhalb von drei Tagen auf der Grundlage des religiösen Gesetz (shari’a) lösen. Sie setzen die vorgeladenen Parteien ins Recht und tun das auf die gerechte Art und ohne extra Geld dafür zu nehmen. Deswegen holen immer mehr Leute die Taliban, um sie Recht sprechen zu lassen.

Offizielle staatliche Stellen dagegen erklären immer wieder, dass solche Dinge nicht im Land geschehen. Die Taliban hätten keine langandauernde Präsenz und wenn sie sich zeigen, würden sie bald wieder verjagt.

Afghanistan – Berge im Licht

Text & Bilder: Steffen Graupner & Kathrin Münzel

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Durch die eisgepanzerte Bergwildnis zwischen Pamir, Hindukusch und Karakorum gab es für die südliche Seidenstraße nur einen einzigen Weg direkt nach China: Den Wakhan-Korridor. Über Jahrtausende hinweg war der Wakhan Handelsweg und Heerstrasse, ein archaischer Highway für Philosophie und Religion, Seide und Gold, Armeen und Entdecker. Grenzfluss und Pulsader dieses Hochtales ist der Oxus der alten Griechen, der heutige Amu Darja. Doch wo genau liegt die Quelle des mythischen Oxus? Continue Reading →

Viagra in der Warteschleife

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Eigentlich sollte sich diese Geschichte um Viagra und Afghanistan drehen. Ein Freund in Kabul hatte in Gegenwart eines Bekannten seinen Wunsch nach dem Potenzmittel geäußert und ich hatte von einem befreundeten Arzt ein Rezept für das Medikament bekommen. Mit Spannung wurde mein Bericht über die Übergabe dieses Gastgeschenkes und die Reaktionen darauf von meinem deutschen Bekanntenkreis erwartet. Ich wollte die Packung Viagra kurz vor meinem Abflug in Frankfurt besorgen. Continue Reading →

Wallfahrten zu arabischen Märtyrern in Kandahar

In Kandahar gibt es laut einem kurzen Filmbeitrag von BBC-Persian seit einiger Zeit einen neuen Wallfahrtsort, der von Menschen aus der Umgebung, aber auch aus anderen Landesteilen aufgesucht wird. Der Friedhof sieht aus wie die meisten anderen in Afghanistan. Nur liegen hier Personen begraben, die tausende Kilometer von hier geboren wurden und für den bewaffneten Dschihad auf Seiten der Taliban nach Afghanistan kamen. 110 arabische Märtyrer (Schahid) sollen hier begraben liegen. Sie alle kamen 2001 bei Bombardements der Amerikaner im Gebiet Kandahar ums Leben. “Täglich besuchen dutzende Personen, Männer und Frauen, diesen heiligen Ort um Gottes Segen zu erbeten, Heilung zu finden oder um die Erfüllung anderer Wünsche zu bitten – etwa den nach Kindern.”

Während orthodoxe Auslegungen des Islam in der Heiligenverehrung und der Wallfahrt eine Abweichung (schirk) sehen, erfreut sich diese Tradition besonders in Zentralasien großer Beliebtheit. Ziyorat – so nennt man den Besuch eines Heiligengrabes in Zentralasien – ist ein weit verbreitetes Phänomen und ein wesentliches Element des Islam in ganz Zentralasien. Gewöhnlich werden Orte besucht, die mit verehrten Persönlichkeiten des Islam in Verbindung gebracht werden (mit Mohammed, seinen Familienangehörigen und Nachfahren, den Propheten, Sufimeistern, Islamischen Gelehrten und anderen). Es werden aber auch andere Orte aufgesucht; etwa Quellen, Bäume und Berge, zu denen eine Vielzahl religiöser Geschichten und Überlieferungen existieren, denen ebenfalls eine spezielle Kraft nachgesagt wird und die eine vermittelnde Verbindung zwischen Gläubigen und Gott einnehmen können.

Afghanistan. Gerettete Schätze.

Die Sammlung des Nationalmuseums in Kabul 11. Juni bis 3. Oktober 2010 in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn

In der Mitte der neunziger Jahre, als die Mujaheddin Kabul aus der Hand der durch die Sowjetunion gestützten Regierung (1992) übernahmen und ein langer Bürgerkrieg um die Vormachtstellung in der Hauptstadt entbrannte, erschütterten Meldungen über Bibliothek- und Museumsplünderungen die Intellektuellen vieler Länder.

Wie durch ein Wunder konnte aber der legendäre Nationalschatz Afghanistans Bürgerkrieg und Zerstörung der Museen Kabuls überdauern.

Dazu das Museum in seiner Ausstellungsbeschreibung selbst:

Die spektakulären Gold-, Silber- und Elfenbeingegenstände sind Zeugen des Königreichs Baktrien, einer hellenistisch beieinflußten Zivilisation, die sich im antiken Afghanistan an den Schnittstellen der Kulturen entlang der Seidenstraße entfaltete und so zum Schmelztiegel der unterschiedlichsten kulturellen Strömungen aus Ost und West wurde. Infolge des Alexanderfeldzugs um 330 v. Chr. zogen mehr und mehr Griechen und Makedonier in die antike Kulturlandschaft, wo sie die baktrische Hochkultur mitbegründeten. In der Ausstellung ist die Synthese der Kulturen sofort erkennbar. Bei den gezeigten Exponaten verschmelzen griechische, persische und indische Motive. So findet sich z. B. eine detailreich gearbeitete Aphrodite mit Engelsflügeln und indischem Bindi (Stirnpunkt) neben einem auf einem Delphin reitenden Eros. (Mehr siehe hier)

Der einzige Lösungsweg für Afghanistan ist der Föderalismus…

In den letzten Tagen wurden auf bbc zwei für Afghanistan relevante Beiträge veröffentlicht, die nicht direkt mit Krieg und Zerstörung zu tun haben, sondern einen konstruktiven Ansatz zur Lösung der Dauerkrise anbieten.

Am Osterwochenende gab es eine Mitteilung, dass die Paschtunischen Stammesgebiete in Pakistan einen neuen Namen erhalten sollen. Die bisherige North-West-Frontier-Province (NWFP) soll laut einem Beschluss vom 31. März in Khyber Pakhtunkhwa umbenannt werden. Pakhtunkhwa (wörtl. Historisches Gebiet der Paschtunen) ist die literarische Variante des umstrittenen Begriffs Pashtunistan. Khyber verweist darauf, dass es sich um die paschtunischen Gebiete auf Pakistanischem Territorium handelt. Bei den Feierlichkeiten der National Awami National Partei (ANP), die diese seit langem geforderte Namensgebung begleiteten, kam es zu einem Selbstmordanschlag, bei dem ca. 50 Personen ums Leben kamen.

Beim zweiten Beitrag, der hier in einer deutschen Übersetzung und Zusammenfassung vorgelegt wird, handelt es sich um ein Interview mit dem Politiker Dr. Latif Pedram aus Afghanistan.

Auch dieses Interview, das in der bbc-persian-reihe “mit anderen Worten” (ba ‘ebarat-i digar) als Tondokument und als Text auf Dari veröffentlicht wurde, handelt von einer angestrebten Namensänderung. Gleichzeitig wirbt Dr. Pedram für einen politischen Systemwechsel in Afghanistan. Der Zentralstaat soll von einem föderalen System abgelöst werden. Sowohl der Namenswechsel als auch die föderale Lösung waren in Afghanistan bisher öffentlich weitgehend Tabuthemen. Continue Reading →