Eingebunden in Sowjetische Geschichte: jüdische Gebetsbücher aus Zentralasien

Dieser Beitrag basiert weitgehend auf einem am 8. März 2021 von Chen Malul auf https://blog.nli.org.il/sodot-hidden-siddur/ auf Hebräisch geposteten Beitrag. Wir danken der National Library of Israel und Chen Malul für die Erlaubnis diesen Beitrag für unseren Blog zu nutzen. Übertragen, gekürzt und bearbeitet von Thomas Loy. 

Kürzlich wurden der Israelischen Nationalbibliothek in Jerusalem vier Gebetsbücher (Hebräisch Siddur) gespendet. Zeev Levin erwarb sie in den frühen 2000er Jahren während seiner Tätigkeit als Emissär der Jewish Agency (Sochnut) in Uzbekistan. Sie stammen aus dem Privatbesitz von Juden, die sie kurz vor ihrer Emigration aus Zentralasien in den Synagogen deponierten. Und das besondere an ihnen ist nicht unbedingt ihr Inhalt, sondern ihr Einband.
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Grigori Choros Gurkin (1870-1937) – Eine Monographie von Ljubov Bragina und Olaf Günther

Ein Beitrag von Andreas Mandler

Grigori Gurkin: Nomaden im Gebirge. (Staatliches Museum der Region Altai) Public domain, via Wikimedia Commons

Zuletzt erschien in der edition tethys ein Band zum altaischen Maler Grigory Ivanovich (Čoros) Gurkin, dessen Bilder zur subkutanen russischen und sowjetischen Welt gehören. Čoros-Gurkins Bilder hängen in Russlands wichtigen Museen und vor allem im Staatlichen Kunstmuseum der Altai-Region.

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Interview mit Kamoluddin Abdullaev: Die Geschichte der Tadschiken ist ebenso tragisch wie die Geschichten des “Stillen Don”

Autor: Haidar Schodiev, Asia-Plus. 5. März 2020.
Übersetzung und Kommentierung [in eckigen Klammern]: Andreas Mandler und Thomas Loy
Mit freundlicher Genehmigung von Umed Babakhanov

Foto: persönliches Archiv K. Abdullaev

Kamoluddin N. Abdullaev wurde am 21. Februar 1950 geboren. Er ist Historiker und eine bekannte Persönlichkeit Tadschikistans. Aus Anlass seines 70. Geburtstages sprach der Jubilar mit Haidar Shodiev von der Zeitung “Asia-Plus” über wenig erforschte Seiten der Geschichte des tadschikischen Volkes, die Bedeutung von Ausbildung und Professionalität, sowie seine eigenen wissenschaftlichen Aktivitäten.

Kamoluddin Abdullaev erforscht und lehrt seit über 30 Jahren die moderne Geschichte Zentralasiens, vor allem die Geschichte Tadschikistans. Seit 1992 ist er auch als unabhängiger Experte und Berater für internationale NGOs und Forschungsinstitutionen tätig, die sich mit dem Aufbau der Zivilgesellschaft, mit Bildung und mit Konfliktlösung in Zentralasien befassen. Er nahm mehrfach an US-Austauschprogrammen für Geschichte und Sozialwissenschaften teil. Kamoluddin Abdullaev ist Verfasser und Herausgeber von 9 Büchern auf Russisch und Englisch und Autor von über 40 Artikeln.

zum Interview… Continue Reading →

Mit Familie Rerich in den Himalaya

Familie Rerich in Indien

Spricht ein Reisender heute irgendwo in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion über den Maler, Schriftsteller, Wissenschaftler und Theosophen Nikolaj Rerich (1874 St. Petersburg – 1947 Kullu, Indien), nicken die meisten verständnisvoll. Viele haben dann Bilder mit den schrillen Farben und Bergmotiven aus dem Himalaja oder dem Altai vor Augen. Einigen kommt die berühmte Dreipunktflagge für den Frieden und den Schutz aller Kulturgüter in den Sinn. Im deutschsprachigen Raum dürfte das heute alles eher unbekannt sein. Für die Flagge des Friedens gibt es nicht einmal einen deutschsprachigen Wikipedia Eintrag, wohl aber einen Französischen und natürlich einen Englischen. Im deutschsprachigen Artikel zu Nikolai Rerich im selben Internetlexikon ist gerade einmal ein Bild verlinkt. Da ist die italienische, französische oder russische Variante um einiges aussagekräftiger. Erstaunlich, denn Nikolai Konstantinovichs Vorfahren, die Roerichs, waren Baltendeutsche, seit Peter dem I. in russischen Diensten und in vielen Bereichen einfluss- und folgenreich. Anfang 1918 floh Nikolaj Rerich mit seiner Familie aus dem revolutionären Russland über Finnland nach London. Es war der Beginn einer langen und faszinierenden Reise. Continue Reading →

Fremdbestimmt? Die für “tot” erklärten Verhandlungen zwischen USA und Taliban aus sprachlicher Perspektive

Ein Beitrag von Lutz Rzehak

Zeig mir, wie Du sprichst, und ich sage Dir, wes Geistes Kind Du bist.

Wie Präsident Donald Trump am 9. September 2019 erklärte, wurden die von den USA geführten Verhandlungen mit den Taliban endgültig eingestellt, nachdem bei einem weiteren Selbstmordattentat der Taliban ein US-Soldat ums Leben kam. Gemeint sind Verhandlungen, die Delegationen der US-Regierung und der Taliban seit Juli 2018 in Katar – übrigens ohne Einbeziehung der Regierung in Kabul – miteinander führten.

In der Woche vor dem Ende der Verhandlungen verbreitete der private afghanische Nachrichtensender Spoghmai.fm (Internet-Seite: http://www.spogmairadio.af/), der vorwiegend auf Paschto sendet, ein auf Paschto verfasstes Dokument, das als “Wahrscheinliches Abkommen zwischen den Taliban und Amerika” betitelt ist. Dieses Dokument ist auf der Homepage des Senders nicht (mehr?) zu finden. Es wurde in Form von drei Grafikdateien, die das Logo SPOGMAI.FM als Wasserzeichen tragen, auf anderen Kanälen verbreitet, zum Beispiel per E-Mail. Ob es sich um einen früheren Entwurf des geplanten Abkommens handelt oder um eine Fassung, die bis zum 7. September 2019 noch als aktuell galt, ist nicht bekannt.

Natürlich kann auch für den afghanisch-pakistanischen Raum nicht ausgeschlossen werden, dass irgendwelche Internet-Trolle Fake-News verbreiten und diese mit fremden Logos schmücken, um einen höheren Grad an Glaubwürdigkeit zu erzielen. Hier soll es aber gar nicht um inhaltliche Fragen gehen, die in diesem Dokument vereinbart worden sein sollen.  Continue Reading →

Ein Blick auf die Kunst der Kalligraphie

Ein Beitrag von Dr. Haschmat Hossaini (Übersetzung: Uwe Feilbach)

 

Toghraa auf ein Reiskorn

Toghrā auf ein Reiskorn

Schrift und die Kalligraphie zählen zu den wertvollsten und komplexesten kulturellen Errungenschaften. Daher ist das Verfassen und Hervorbringen eines schriftlichen Werkes keine einfache Sache und kann es auch gar nicht sein. Wenn wir einen Blick auf die Entwicklung der menschlichen Zivilisation werfen, dann erkennen wir, dass die Erfindung der Schrift durch unsere Vorfahren etwas ist, das all unsere Aufmerksamkeit verdient.

Von dem Zeitpunkt an, als die Anfänge der für den schriftlichen Ausdruck geeigneten Zeichen in Erscheinung traten, sind unzählige, untereinander sehr verschiedene Schriftsysteme in den unterschiedlichsten Formen entstanden.

Besonderheiten in Sprache und Kultur sind der Grund dafür, dass heute auf der Erde für die Aufzeichnung und Übermittlung der Gedanken der Menschen so viele unterschiedliche Schriften verwendet werden. Die Schrift übt immer einen maßgeblichen und prägenden Einfluss auf die Entwicklung und Reifung des Denkens, der Kultur, der Wissenschaft und Bildung der Menschen aus. Besonders deutlich wird dies in islamisch geprägten Gesellschaften.

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Kabbs run free – Eine Begegnung mit den Chukar-Steinhühnern in Tadschikistan

Ein Beitrag von Andreas Mandler

 

 

 

 

 

 

 

Das Chukar-Steinhuhn (alectoris kakelik; Persisch/Tadschikisch: kabg/kabk) ist ein in den Bergen und Hügeln Zentralasiens weit verbreiteter Hühnervogel, aber auch ein beliebter Mitbewohner ländlicher und sogar städtischer Haushalte. Im Zarafshantal im Norden Tadschikistans wird das fasanenartige Chukarhuhn allgemein als Kabb angesprochen. In manchen Dörfern sind die Vögel sehr populär. Oft hängen in den Innenhöfen der Haushalte Käfige mit je einem Tier. Diese sind tagsüber mit Stoff verhangen. Zum Sonnenauf- und untergang melden sich die Steinhühner mit deutlichen tschuk… tschuk …. tschuk ….pertschuk…tschukar-tschukar-tschukar Rufen (Lautschrift Wikipedia hier). Manchmal haben die Hausbewohner mehrere Käfige, mit jeweils einem Männchen oder Weibchen darin. Rufen sich die Vögel gegenseitig, ist das Entzücken der Besitzer grenzenlos.

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Keine Kinderarbeit?

Eine Beobachtung von olimdevona

Neulich in Buchara… Teppichzentrum am Kajan Minarett, eine junge Dame, die die Besucher über Bucharas Teppiche aufklärt, beteuert im besten amerikanischen Englisch, dass die Teppiche in Buchara die weltweit preiswertesten Knüpfteppiche persischer Machart seien. Wer sie billiger anbiete, könne das nur noch durch das Ausbeuten von Kindern tun. Eine Behauptung, die bei den anwesenden deutschen Touristen sofort heftiges Kopfnicken hervorruft. Kinderarbeit ist in ihren Augen etwas schlimmes. Das kann keiner gut finden. Bucharateppiche aber schon.

Szenenwechsel wenige Jahre zuvor, irgendwo im Ferghanatal. Eine Führung von Reisenden bringt folgendes zu Tage: Angesprochen auf die herumreisenden Zirkustruppen, mit denen ich arbeite, wird mir von einer uzbekistanischen Freundin nahegelegt, darauf hinzuweisen, wie früh hier die Kinder in die Zirkustruppen integriert und die Meisterschaft dieser Kunst erlernen würden. Ein Dilemma tut sich auf. Was die moderne Gesellschaft sanktioniert, wird in der traditionellen Gesellschaft als eine Errungenschaft gesehen. Das zieht sich durch viele Bereiche. Bei einer Führung durch das Faizulla Hodschaev Museum kommt es zu einer Vorführung einer mittelasiatischen Wiege (Beschik). Hier werden Kinder auf ein Bett gebunden, der Urin durch ein Loch im Boden abgeführt. Das Kind liegt so seelenruhig, braucht keine Plastikwindel und ist so auch nicht Innentemperaturen von über 40 Grad Celsius im Geschlechtsbereich ausgesetzt. Die Touristen führen eine Diskussion, auf der Wörter wie “Tortur” und “Ertragen müssen” in den Raum gestellt werden. Die Mütter des Nachkriegseuropas waren Freunde der freien Körperbewegung und stehen der traditionellen Steck- und Wickeltechnik von Kindern skeptisch bis feindlich gegenüber. Eine trockene Bemerkung des usbekischen Fremdenführers im Nachhinein: Offiziell müsse jeder Arzt in Uzbekistan die Wickeltechnik auf der Beschik kritisieren. Sie ist verboten. Tatsächlich aber habe jeder dieser Ärzte auch eine solche Wiege bei sich zu Hause zu stehen.

Meister und Schüler an einem Verkaufsstand auf dem Ark in Buchara 2010. Foto: Guntram Walter

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I don’t sing about love

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Ein Beitrag von Emilia Roza Sulek

There are moments in every scholar’s life, when one accidentally opens a computer file with a title which does not say much about whether it is a draft of an article, a half-translated interview or an unfinished application. These pieces of writing were abandoned as our writing zeal declined, when other tasks came in the way, or when interests changed. If authors before had a drawer where they would dump such drafts while cleaning the desk for something more urgent or important, nowadays the folders in our computer play such a role. Some of these forgotten pieces of writing are accidentally deleted during some upgrading process or get lost while changing the drive and other devices. Some do not even leave a trace in our memory. With some files, we regret losing it, like I do, of an interview with an elderly nomad who told me of his youth spent as a bandit and of his prison term served for stealing Ma Bufang’s horses. I had few of such confessions.

Much of the aborted writings which survived computer purges are never used for publications, because we either need additional data or the topic does not belong to the main field of our expertise. Although we consider these pieces of writing as ‘too short’ to publish, they contain interesting data. As field researchers, we have access to a wealth of information which we receive aside our main inquiries. These pieces of information can be useful for other people, scholars and non-academic readers. However revealing or inspiring such information can be, it sometimes disappears in an abyss which opens up between academic writing where ethnographic data should illustrate a theoretical debate or support a grand thesis and writing for popular journals, which is not easy to produce for scholars and is ruled by its own laws of what an attractive read is or not. This ‘abyss’ absorbs large parts of what the researcher hears, observes, and notes down in the field. Yet, accidental discoveries of our forgotten computer files can sometimes give such material a second life.

The text below is an interview with a singer whose music accompanied me during my field research and whose songs were played in restaurants, shops and cars. The genre called dunglen, which he mastered, is performed with the accompaniment of a mandolin and dunglen lyrics often originate from folk songs. Yet, in present-day Tibet, the lyrics often venture into new, political or socially engaged fields. The reason I conducted this interview is connected to this. The singer was well-known for his critique of certain aspects of social and economic life which he expressed in his songs. Besides, I was a fan of him. Although I am an anthropologist and he was my informant, this was an interview with a celebrity. My informant did not appear in tabloid newspapers because such newspapers did not exist in his region, but he was nevertheless on everyone’s lips. His special status was magnified by the fact that he had been detained during a wave of preemptive arrests that swept through his region before the Beijing 2008 Summer Olympics. It was common knowledge that the arrest was not his first time.

The interview was planned for a publication in a journal, but I never managed to finish it. Conducting an anthropological and journalistic style interview are two different things and I was not sure what story to tell. I planned another meeting to continue talking with him, to get a proper photograph taken of him, and so on, but none of these happened. Below are parts of an edited interview. They will never become part of any academic publication (at least not mine), and the chance that we meet again to finish the interview is small. That would anyway be a meeting of two different people, different than in 2009 when we met for this interview.
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Trauerzeremonien (Sugwari) – Im Monat Muharram in Buchara und Samarkand

Ein Beitrag von Massud Hosseinipour
(aus dem Persischen übersetzt von Th. Loy)

Trauerprozession und Selbstgeißelung in Buchara vor 95 Jahren (aus O. Suchareva: "Buchara im 19. Und frühen 20. Jahrhundert".

Trauerprozession und Selbstgeißelung in Buchara vor 95 Jahren (aus O. Suchareva: “Buchara im 19. Und frühen 20. Jahrhundert”.

Ein viertel Jahrhundert ist seit dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Untergang der Sowjetunion mittlerweile verstrichen. Aber die Eroberung Mittelasiens durch das Russländische Reich, die in der Folge davon gezogenen politischen und ethnischen Grenzen und 70 Jahre bolschewistische und sowjetische Herrschaft haben tiefe Spuren hinterlassen und zwischen uns (Iranern) und unserer anderen, mittelasiatischen Hälfte einen bis heute kaum überbrückbaren Graben gezogen. Wir hören zwar unsere Stimmen, aber klar sehen können wir uns bis heute nicht. Städtenamen wie Buchara, Samarkand und Chudschand versetzen uns (Iraner) in Verzückung und auch ihre Augen leuchten, wenn von Iran die Rede ist. Sie wollen mehr über uns und unsere Geschichte in Erfahrung bringen, und auch wir wollen wissen, was ihnen widerfuhr und heute widerfährt. Doch oft genug bleibt undurchdringlicher Nebel.
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